LINKE gegen Ausweitung der Zwangsbefragung bei kleiner Volkszählung

23.09.2016

Rede zu Protokoll vom 22.9.2016 zu TOP 33.: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze (Drucksache 18/9418)

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,

in regelmäßigen Abständen debattieren wir hier über die kleine Volkszählung, wie der Mikrozensus ja von Vielen zu Recht genannt wird. Nun hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur generellen Neuregelung des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Statistikgesetze vorgelegt, der das zum Ende dieses Jahres auslaufende Gesetz ersetzen soll.

Er sieht im Unterschied zu den bisherigen Mikrozensusgesetzen, in deren Rahmen seit 1957 bisher jeweils rund ein Prozent der Bevölkerung, aktuell also 830.000 Personen in 390.000 privaten Haushalten und Gemeinschaftsunterkünften, in vier aufeinanderfolgenden Jahren stellvertretend für die ganze Bevölkerung mit endlosen Fragebögen und sehr differenzierten Fragen zu nahezu allen Lebensbereichen interviewt wurden, eine unbefristete Fortführung des Mikrozensus vor. Bisher wurde der Mikrozensus stets zeitlich befristet, um in regelmäßigen Abständen den Erhebungsbedarf überprüfen und das Gesetz gegebenenfalls anpassen oder gar auslaufen lassen zu können.

Von einer generellen Infragestellung oder der Möglichkeit einer Evaluation will die Bundesregierung nun nichts mehr wissen. Sie begründet dies einerseits mit unbefristeten Datenlieferverpflichtungen der EU. Denn „durch die Integration der Stichprobenerhebung über Arbeitskräfte, der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen und der Gemeinschaftsstatistik zur Informationsgesellschaft in den Mikrozensus werden europäische Verpflichtungen zur Lieferung statistischer Angaben erfüllt". Andererseits hätte sich die Befristung „in der Vergangenheit nicht bewährt“. Das kann man so sehen, muss man aber ganz sicher nicht. Aus unserer Sicht steht eine Zwangserhebung wie der Mikrozensus im Widerspruch zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Natürlich ist auch meine Fraktion nicht prinzipiell gegen die Grundidee, durch Befragung einer kleinen, repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung nach mathematisch-statistischen Verfahren ein annähernd wirklichkeitsgetreues Abbild der sozio-ökonomischen Verhältnisse in diesem Land zu bekommen. Allerdings setzen wir uns dafür ein, dass das Erfassungsverfahren so grundrechtsschonend und realitätsgerecht wie nur irgend möglich erfolgt. Und da müsste dann zumindest erst einmal nachgewiesen werden, dass das Ziel repräsentativer Daten über die Bevölkerung nur mit zwangsweiser Verpflichtung zu erreichen ist. 17 von 28 EU-Staaten führen ihre Erhebungen auf freiwilliger Basis durch. Von mangelhafter Datenqualität hört man außer hierzulande nichts.

Viel gravierender als die Entfristung erscheint mir daher, dass Sie mit dem neuen Konzept des Mikrozensus gleichzeitig auch die Teilnahmepflicht auf die EU-Erhebungen ausweiten, an denen die Teilnahme bislang freiwillig war. Dies ist überhaupt nicht hinnehmbar.

In diesem Zusammenhang fand ich die Stellungnahme des Bundesrates sehr bemerkenswert, der diesen Punkt völlig zu Recht ebenfalls kritisiert. Dort heißt es u.a.:

„Nach den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 1177/2003 sind die Angaben zu Einkommen und Lebensbedingungen für die zu Befragenden freiwillig. Die Einführung einer Auskunftspflicht in der Bundesrepublik Deutschland geht insoweit weit über die EU-Vorgaben hinaus. Aufgrund der hohen Sensibilität der EU-rechtlich vorgegebenen Erhebungsmerkmale in Bezug auf Einkommen und Lebensbedingungen ist mit einer Zunahme von Auskunftsverweigerungen und erheblicher Verärgerung seitens auskunftspflichtiger Privatpersonen zu rechnen.“

An anderer Stelle stellt der Bundesrat richtigerweise fest, dass „eine auskunftspflichtige Erhebung sehr privater, sehr sensibler und vielfach subjektiv geprägter Fragen einen Paradigmenwechsel in der amtlichen Statistik darstellt“. Der Bundesrat befürchtet einen Imageschaden, „der negative Auswirkungen für die Durchführung und den Zielverwirklichungsgrad auch anderer Statistiken haben und entsprechende Erhebungen erschweren könnte.“ Dass sie diese Befürchtungen nicht ernst nehmen ist höchst bedauerlich. Sie halten stattdessen weiter an Ihrem Mantra fest, wonach Befragungen auf Zwang basieren müssten, weil sie ansonsten nicht zu verwertbaren Daten führen würden. So schreiben Sie in ihrer Begründung einmal mehr, dass „bei freiwilligen Erhebungen, wie derzeit z. B. EU-SILC, […] in der Regel systematische Verzerrungen vor[liegen]. Personen im unteren und oberen Einkommensbereich weisen nach bisherigen Untersuchungen geringere Teilnahmequoten auf, sodass die Indikatoren mit keiner hinreichenden Präzision für die anvisierte Evaluation bereitgestellt werden können.“

Dies ist einigermaßen gewagt, da in der Bundesrepublik Deutschland bislang keine einzige Machbarkeitsstudie durchgeführt worden ist und auch in nahezu allen anderen EU-Mitgliedstaaten EU-SILC als freiwillige Erhebung durchgeführt wird. Und man kann auch mal fragen, was denn die präzise Erfassung von Armut und Reichtum bringen soll, solange ohne hin systematisch eine Politik betrieben wird, die die Reichen reicher und die Armen noch ärmer macht.

Auch die im Gesetz vorgesehenen Möglichkeiten, die Anonymisierung der Daten zumindest zeitweise wieder aufzuheben, trifft auf datenschutzrechtliche Bedenken. Der Gefahr der Erstellung weitgehender Profile der betroffenen Bürgerinnen und Bürger muss aus unserer Sicht durch eine strenge Zweckbindung und absolute Anonymisierung der Daten Rechnung getragen werden.

Schon am 16. Juli 1969 hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zu einer Klage gegen den „Mikrozensus“ intensiv mit der Frage beschäftigt, inwieweit es dem Staat gestattet sein darf, seine Bürgerinnen und Bürger zu erfassen, zu kategorisieren oder in ihre innersten Rückzugsräume einzudringen. Dabei spricht das Gericht vom „Recht auf Einsamkeit“. Gemeint ist damit ein „Recht, alleine gelassen zu werden“. Das Gericht führt dazu Folgendes, wie ich meine, auch heute noch hoch Aktuelles, aus:

„Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen. Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist.

Ein solches Eindringen in den Persönlichkeitsbereich durch eine umfassende Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse seiner Bürger ist dem Staat auch deshalb versagt, weil dem Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein ‚Innenraum‘ verbleiben muß, in dem er ‚sich selbst besitzt‘ und ‚in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt‘“.

Es wäre schön, wenn auch Sie sich künftig im Gesetzgebungsverfahren an diesen Worten orientieren würden.

Vielen Dank.