Dokumentationszentrum zum NS-Vernichtungskrieg ist erinnerungspolitischer Meilenstein

09.10.2020
Jan Korte, DIE LINKE: Dokumentationszentrum ist erinnerungspolitischer Meilenstein

Nach Jahrzehnten konservativen Widerstands ist es nun endlich gelungen das Gedenken an die Millionen Opfer des NS-Vernichtungskriegs im Osten und der deutschen Besatzungspolitik in Europa entscheidend zu stärken. DIE LINKE dankt den Initiativen, die für einen Gedenkort gekämpft haben, und unterstützt die Errichtung einer entsprechenden Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte in Berlin.

Hier das Plenarprotokoll der Rede am 9.10.2020:

Jan Korte (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag ist richtig, ist ein geschichtspolitischer Meilenstein, und Die Linke wird ihm heute zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Es ist - daran möchte ich einmal erinnern - nicht nur das Verdienst von zwei Jahren Debatte in der Koalition, sondern vor allem auch das Verdienst von 60 Jahren geschichtspolitischer Auseinandersetzung in diesem Land. Ich möchte stellvertretend für viele vor allem Peter Jahn nennen, den ehemaligen Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst, der viele Jahre für einen solchen Antrag gekämpft hat. Ihm gilt unsere Anerkennung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Frage, über die wir hier sprechen müssen, ist: Warum das Ganze erst jetzt, im Jahre 2020? Dazu müssen wir uns natürlich einer großen Lüge der Bundesrepublik stellen, nämlich dass die Aufarbeitung des NS-Faschismus eine Erfolgsgeschichte gewesen sei. Das war sie nicht. Sie musste immer wieder hart erkämpft werden.

Ich will dafür kurz zurückblicken. Ich gehe ins Jahr 1945 und erinnere an Pfarrer Martin Niemöller und das Stuttgarter Schuldbekenntnis.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich erinnere an das Jahr 1952, an Fritz Bauer, der im damaligen Remer-Prozess den Nachweis geliefert hat, dass Graf von Stauffenberg kein Landes- oder Hochverräter gewesen ist, und mit seinem Plädoyer, das mit dem Ausspruch endete: „Unrecht kennt keinen Verrat!“, für Fortschritt eingetreten ist

(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE))

und der Diffamierung Graf von Stauffenbergs ein Ende gesetzt hat. Daran müssen wir erinnern.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es war ebenso der große hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der 1963 den Auschwitz-Prozess initiierte. Es war der damalige Bundeskanzler Willy Brandt, der mit dem Kniefall am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos epochale Zeitgeschichte schrieb.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es war 1985 Richard von Weizsäcker, der es geschafft hat, vom „Tag der Befreiung“ zu sprechen, und das erste Mal in diesem Haus den Widerstand und auch die Opfer der Arbeiterbewegung - inklusive der kommunistischen Arbeiterbewegung - und des Widerstandes thematisiert hat.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Dass es in dieser Frage immer wieder geschichtspolitische Auseinandersetzungen gibt, erkennt man auch an der ersten Wehrmachtsausstellung im Jahr 1995. Damals ist es allen Ernstes noch so gewesen, dass Teile der CSU mit Neonazis in München gegen diese Ausstellung demonstrierten

(Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Stimmt doch gar nicht! Ist falsch!)

und der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe den Angehörigen der Bundeswehr untersagte, diese Ausstellung zu besuchen.

(Ulli Nissen (SPD): Pfui!)

Das zeigt: Es geht immer wieder um Auseinandersetzung im geschichtspolitischen Feld.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Christian Petry (SPD) und Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Erst 2002 - man muss es sich vorstellen: erst 2002 - wurden die Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert, erst 2009 die sogenannten Kriegsverräter. Und schließlich erst 2015 möglichst leise und heimlich, ohne eine offizielle Geste - aber immerhin - hat der Deutsche Bundestag entschieden, dass die wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen eine Einmalzahlung von 2 500 Euro erhalten sollen. Leider hat das viel zu wenige erreicht.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Jeder Fortschritt, jede Entschädigung und jede Auseinandersetzung im Land der Täter - so ist es nun einmal - musste erkämpft und durchgesetzt werden.

Eine besondere Opfergruppe, eine der größten, nämlich die des Vernichtungskrieges im Osten - er zog sich von Polen bis in die Länder der ehemaligen Sowjetunion -, kam überhaupt nicht vor. Auch da müssen wir nachfragen: Warum ist das so? Das hat natürlich politische Gründe. Zunächst einmal ist dies dem Kalten Krieg und der Rückkehr der alten Eliten in Amt und Würden in der Bundesrepublik geschuldet gewesen.

(Brigitte Freihold (DIE LINKE): Genau!)

Fast kein Täter wurde verurteilt. Selbst die schlimmsten Massenmörder, die zum Teil eigenhändig das Zyklon B eingeleitet hatten, sind, wenn überhaupt, als Gehilfen verurteilt worden - wenn überhaupt! Es gab natürlich auch eine schöne Entschuldung der Gesamtgesellschaft, indem man sagte: Es gibt drei Hauptschuldige, das sind Hitler, Himmler und Göring - praktischerweise alle tot -, und ansonsten müssen wir uns gesellschaftlich nicht mit der eigenen, auch emotionalen, Verstrickung in den Faschismus auseinandersetzen. Und es war natürlich die Zeit des Antikommunismus, in der der Sozialismus und Kommunismus als viel schlimmer und verheerender angesehen wurde als der NS-Faschismus; daran muss man erinnern. Es war damals, in den 50er- und 60er-Jahren, so - ja, Kollegin Motschmann, es ist so gewesen -,

(Beifall bei der LINKEN - Elisabeth Motschmann (CDU/CSU): Nein, das stimmt nicht!)

dass der Krieg gegen die Sowjetunion in der bundesdeutschen Gesellschaft als geradezu legitim angesehen worden ist. Hinzu kam die Legende von der sauberen Wehrmacht, die angeblich mit all dem nichts zu tun hätte.

Der Krieg im Osten war ein entgrenzter Vernichtungskrieg, der alle bis dahin geltenden Rechts- und vor allem Zivilisationsregeln suspendiert hat. Hinter der Front ermordeten die Einsatzgruppen mit direkter Hilfe von Wehrmachtsverbänden 2,5 Millionen Frauen, Kinder und Männer. Es lohnt sich, in diesen Zeiten einmal wieder das epochale Werk von Raul Hilberg, „Die Vernichtung der europäischen Juden“, zur Hand zu nehmen. Gerade Sie sollten das einmal in Ruhe lesen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Den höchsten Blutzoll zahlte die UdSSR mit 27 Millionen Toten, davon 14 Millionen Zivilisten. Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben 3,3 Millionen; das entspricht einer Sterblichkeit von 60 Prozent. Im Gegensatz dazu - um einmal einen Vergleich zu haben - lag die Sterblichkeit der westlichen alliierten Kriegsgefangenen bei 3,5 Prozent.

Deswegen ist der Antrag, der heute vorliegt, richtig. Er findet unsere Unterstützung; denn ich glaube, dass es jetzt, nach all diesen Jahrzehnten der Auseinandersetzung, Zeit ist, einen Schritt in diese Richtung zu gehen, ein Zeichen an die noch wenigen Überlebenden, vor allem an ihre Kinder und Enkelkinder, und auch in unsere Gesellschaft zu senden, nämlich für die Mahnung: Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus!

Die Linke stimmt dem Antrag zu.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)