Juristische Aufarbeitung staatlicher Verbrechen: 75. Jahrestag der Nürnberger Prozesse

20.11.2020
Acht der 24 Hauptangeklagten in Nürnberg: Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (vordere Reihe von links), Dönitz, Raeder, von Schirach und Sauckel (dahinter).

Zu Recht wurden und werden die Nürnberger Prozesse vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) gegen die obersten Vertreter des NS-Staates, die man hatte festsetzen können, weltweit als wegweisend angesehen. In den insgesamt 13 Verfahren, die zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 im Justizpalast Nürnberg geführt wurden, gelang es erstmals, staatliche Verbrechen mit den Mitteln des Rechts zu bewerten und zu sühnen.

Die staatlich organisierten Massenverbrechen der Nazis während des Zweiten Weltkriegs verstießen nicht nur gegen alle geltende Regelungen des Kriegsvölkerrechts, wie sie in der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen fixiert waren, sondern stellten einen nie dagewesenen Zivilisationsbruch dar. Die Alliierten beschlossen daher noch während des Krieges die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen sowie die politische Beseitigung des diesen Verbrechen zugrunde liegenden Nationalsozialismus und Militarismus. Bereits in ihrer Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 bekräftigten Großbritannien, die USA und die Sowjetunion NS-Verbrecher zur Verantwortung ziehen zu wollen. Deutsche, die in einem besetzten Land Verbrechen begangen hatten, sollten ausgeliefert und nach dort geltendem Recht verurteilt werden. Die Hauptverbrecher aber, deren Verbrechen nicht einem bestimmten Land zugeordnet werden konnten, sollten nach einer noch zu fällenden gemeinsamen Entscheidung der Alliierten bestraft werden. Die Alliierten sahen die rechtstaatliche Abrechnung mit dem NS-Staat als notwendige Voraussetzung für den endgültigen Bruch mit der Diktatur und zur demokratischen Neubegründung einer Nachkriegsordnung in Deutschland. In deren Zentrum sollten die vier großen „D“ stehen: Denazifizierung, Demokratisierung, Dekartellisierung und Demilitarisierung.

Im Londoner Statut von 1945 wurden, neben der Verfolgung von Kriegsverbrechen, auch zwei neue Strafnormen des Völkerrechts etabliert: Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Weiteren wurden Amtspersonen als strafrechtlich verantwortlich definiert und damit Einzelpersonen (neben Staaten) als Subjekte des Völkerrechts zugelassen. Auch die Ausführung von Befehlen sollte nicht per se Straffreiheit sichern, konnte aber strafmildernd Berücksichtigung finden.

Die Strafverfolgung weiterer Kriegsverbrecher sollte von den Militärgerichten der vier Besatzungsmächte in Deutschland durchgeführt werden. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 über die Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, schuf dazu eine einheitliche Rechtsgrundlage. Unter Kriegsverbrechen wurden Delikte verstanden, die bereits in den Haager Abkommen vor dem Ersten Weltkrieg definiert worden waren: Tötung oder Misshandlung von Kriegsgefangenen, Hinrichtung von Geiseln, Verschleppung zur Zwangsarbeit, etc. Unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit fielen vor allem die Verfolgung und Vernichtung der Juden und die Vernichtung „unwerten“ Lebens, also Tötungsdelikte, die in allen zivilisierten Staaten verfolgt wurden. Unter Verbrechen gegen den Frieden wurde der Angriffskrieg verstanden, ein bis zu diesem Zeitpunkt nicht codifiziertes Delikt.

Die Alliierten beauftragten verschiedene Kommandos zur Sicherung von Beweisdokumenten, die Unmengen an Belastungsmaterial über die faschistischen Verbrechen zusammentrugen, so dass die Anklage in Nürnberg auf Tausende sichergestellte und aufgefundene Dokumente zurückgreifen konnte. Das vorgelegte Material war so umfangreich, dass die nach Abschluss des Verfahrens in Druckform erschienene Prozessdokumentation selbst in 42 Bänden nicht alle vorgelegten Dokumente aufnehmen konnte. Mit den Filmaufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern wurden zudem das erste Mal Dokumentarfilme als Beweismittel eingesetzt.

Das erste und mit Abstand berühmteste Verfahren, das vom 20.11.1945 bis zum 1.10.1946 geführt wurde, richtete sich gegen die deutsche Partei- und Staatsführung. Nachdem sich Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler durch Selbstmord der Verantwortung entzogen hatten, waren in diesem Hauptverfahren 24 Personen angeklagt, darunter Hermann Göring, Rudolf Heß, Hans Frank und Karl Dönitz. Letztlich saßen nur 21 davon auf der Anklagebank, denn gegen Martin Bormann, den Stellvertreter Hitlers, wurde in Abwesenheit verhandelt, das Verfahren gegen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt, Robert Ley, der Reichsorganisationsleiter der NSDAP und ehemalige Führer der Deutschen Arbeitsfront, hatte bereits vor Prozessbeginn Selbstmord begangen.

Am 1. Oktober 1946 verkündeten die Richter das Strafmaß der Urteile: Neben zwölf Todesurteilen gegen Herrmann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Arthur Seyß-Inquart, Martin Bormann, Alfred Rosenberg, Julius Streicher, Wilhelm Keitel, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Fritz Sauckel wurden sieben Haftstrafen unterschiedlicher Dauer verhängt: Rudolf Heß, Erich Reader, Walther Funk (alle lebenslänglich), Baldur von Schirach und Albert Speer (20 Jahre), Konstantin von Neurath (15 Jahre), Karl Dönitz (10 Jahre). Mit Franz von Papen, Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht und Hans Fritzsche, dem Leiter der Rundfunkabteilung im Propagandaministerium, wurden drei der Angeklagten freigesprochen.

In Anschluss an den Hauptprozess fanden 1946-49 zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse vor amerikanischen Militärgerichten gegen 177 hochrangige Mediziner, Juristen, Industrielle, SS- und Polizeiführer, Militär, Beamte und Diplomaten statt. Die Verfahren belegen, in welchem Ausmaß die deutsche Führungsschicht zum Machtsystem der NS-Gewaltherrschaft beigetragen hatte. Von den 177 Angeklagten wurden 24 zum Tode verurteilt, 20 zu lebenslanger Haft und 98 zu teilweise langjährigen Freiheitsstrafen. 25 Angeklagte wurden freigesprochen. Von den 24 Todesurteilen wurden 13 vollstreckt.

Neben der strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen leisteten vor allem die sogenannten Nachfolgeprozesse gegen die Funktionseliten des ‚Dritten Reiches’ einen frühen, einflussreichen Versuch, zu einer historischen Analyse des NS-Staates zu gelangen. Aufbauend auf Untersuchungen deutscher Emigranten und alliierter Geheimdienste fand in der Konzeption eine politik- und sozialwissenschaftlich informierte Interpretation Ausdruck, die historische Verantwortung nicht einer kleinen Clique ideologischer Überzeugungstäter, sondern breiten gesellschaftlichen Trägergruppen zuwies. Trotzdem wurde die Entnazifizierungspolitik, besonders der Westalliierten, übereilt abgebrochen, die Internierungslager in der Folge aufgelöst. Grund dafür war der beginnende Kalte Krieg, in dem Westdeutschland als Frontstaat eingebunden werden sollte, womit die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zugunsten einer neuen Feindstellung gegen den Kommunismus weitgehend aufgegeben wurde. Die Politik änderte sich im Kalten Krieg in Richtung eines Rehabilitierungskurses. Im Verlauf der 1950er Jahre waren fast alle Verurteilten der 13. Nürnberger Prozesse wieder auf freiem Fuß.

Als die Besatzungsmächte sich zurückzogen, war nur ein Teil derjenigen NS-Massenverbrechen strafrechtlich abgeurteilt worden, für die sie die Gerichtsbarkeit an sich gezogen hatten. Ab 1950 wurde das Kontrollratsgesetz Nr. 10 in der Bundesrepublik mit den enthaltenen neuen völkerrechtlichen Tatbeständen nicht mehr angewendet.

Von Politik und Öffentlichkeit der Bundesrepublik wurden die Prozesse in den fünfziger Jahren vor allem als „Siegerjustiz“ diffamiert. Es fand eine weitgehende Solidarisierung mit den verurteilten Tätern statt und die frühe Gesetzgebung der Bundesrepublik zielte insbesondere auf eine Amnestierung der verurteilten Täter bzw. ein Ende der juristischen Aufarbeitung (vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit). So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, das Urteil gegen Alfred Jodl 1953 von einem deutschen Gericht aufgehoben. Begründet wurde dies mit dem so genannten „Rückwirkungsverbot“, nachdem Taten nicht verurteilt werden dürfen, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung noch nicht strafbar sind. Mit dem Ex-post-facto-Argument weigerten sich die Bundesregierungen jahrzehntelang, die Nürnberger Urteile als Recht anzuerkennen.

Dies ist heute zum Glück nicht mehr so. Die Einschätzung, dass die Nürnberger Prozesse für die Rechtsgeschichte aber auch für das Wissen um die Verbrechen des deutschen Faschismus einen entscheidenden Beitrag geleistet haben, ist heute weitestgehend unbestritten. Erstmals wurden die Vertreter eines souveränen Staates für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen, wodurch dem Prinzip, dass es für einen Kernbestand von Verbrechen keine Immunität geben darf, zum Durchbruch verholfen wurde. Umso mehr überrascht es, dass die Nürnberger Prozesse bislang nur fragmentarisch als Forschungsgegenstand eigenen Rechts Beachtung gefunden und die vorhandenen Monographien sich vor allem auf das Verfahren gegen die verbliebene Regimespitze vor dem IMT konzentriert haben. So fehlen für die überwiegende Zahl der Nachfolgeprozesse empirisch gesättigte Untersuchungen fast vollständig.

Die Bilanz der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen vor bundesdeutschen Gerichten ist beschämend:

Insgesamt wurden von rund 173.000 Beschuldigten, gegen die zwischen 1945 und 2005 über 38.000 Strafverfahren angestrengt wurden, vor west- und seit 1990 gesamtdeutschen Gerichten - nur 5.672 Anklagen erhoben. Diese führten wiederum zu 4.964 Prozessen mit 14.693 Angeklagten. Nur 6.656 wurden verurteilt, davon gerade einmal 1142 wegen Tötungsverbrechen, von denen die Richter nur 204 Fälle als Mord werteten. Die allermeisten Verurteilungen endeten mit geringen Haftstrafen zwischen bis zu sechs Monaten und einem Jahr. Nur 9 Prozent aller Haftstrafen waren höher als fünf Jahre und nur 175 davon führten formell zu lebenslanger Haft. Viele der Täter, die wegen schwerer Verbrechen zu Haftstrafen verurteilt worden waren, wurden in den 1950er-Jahren begnadigt und gelangten nach kurzem Arrest wieder auf freien Fuß.