"Je stärker der Sozialstaat, desto größer die Freiheit"

Positionspapier für die Klausur der Fraktion DIE LINKE

19.01.2022

Die Pandemie hat das verhältnismäßig reiche Gesundheitssystem Deutschlands so stark getroffen und an seine Grenzen geführt, weil das, woran es in ihm mangelt, nicht vorrangig Maschinen, sondern Menschen sind. Menschen, die schon vor der Pandemie enorm wichtige Arbeit unter prekären Bedingungen und für unfassbar schlechte Bezahlung geleistet haben.

Das neoliberale Kaputtsparen der sozialen und staatlichen Infrastruktur hat zur Unterausstattung des öffentlichen Gesundheitsdienstes geführt. Dies hat sich in der Pandemiebekämpfung darin ausgewirkt, dass Infektionsschutzmaßnahmen nicht mehr gegenüber nachweisbar oder auf Grundlage konkreter Annahmen potentiell Infizierten verhängt wurden, sondern einfach gegenüber der Gesamtbevölkerung. Kultur- und Gastronomieeinrichtungen wurden pauschal geschlossen, weil eine Abnahme einrichtungsbezogener Schutzkonzepte personell nicht geleistet werden konnte. Schulschließungen, schlechte Betreuung und Unterrichtsausfall konnten nicht verhindert werden, weil man Schulen Jahrzehnte lang dem Verfall preisgegeben und Lehrpersonal eingespart hat. 

Je mehr sich der Staat aus der Verantwortung zurückzieht, desto mehr muss die Bevölkerung kollektiv ausbaden – und desto mehr gehen Schutzmaßnahmen zu Lasten der Freiheit. Wenn Menschen auf diese Weise allein gelassen werden, dann lernen sie den Grundwert, auf den es in einer Pandemie ankommt, nicht: Solidarität. Wir Linke streiten dafür, Solidarität als Wert in der Gesellschaft zu stärken. Wir gehen vom Bild des solidarischen, aufgeklärten Menschen aus – wir wollen die Pandemie mit den Menschen bekämpfen und nicht gegen sie.

Wir orientieren unsere Politik an folgenden Grundsätzen:

  1. Solidarität mit anderen, vor allem den Schwächeren, ist die Kernbotschaft der Linken und der Partei DIE LINKE. Wer sich in einer globalen Pandemie unsolidarisch verhält, wer nicht bereit ist, sich zum Schutz von anderen einzuschränken, sich selbst einfachsten Schutzmaßnahmen wie Tests und dem Tragen von Masken verwehrt oder bewusst Unwahrheiten verbreitet, verabschiedet sich von einem für die Linke wesentlichen und identitätsstiftenden Wert.
  2. Die Position der LINKEN leitet sich auch in der Pandemie her aus dem Gestaltungsanspruch des sozialen Rechtsstaats. Damit wird die Wahrnehmung von Freiheit für alle Menschen erst möglich. Soziale und Freiheitsrechte stehen im engen Verhältnis.
  3. Der Staat als sozialer Rechtsstaat trägt zunächst die Verantwortung dafür, dass die für die freiheitliche Entfaltung der Einzelnen erforderliche Infrastruktur abgesichert ist. Die Versorgung der Menschen etwa mit Wasser und Strom, die Müll- und Abwasserentsorgung, der öffentliche Personenverkehr, Post- und Telekommunikation, kulturelle Leistungen, Gesundheitsdienste, Angebote zur sportlichen Betätigung und das gerechte Bildungswesen sind Leistungen, die im Interesse des Gemeinwohls sicherzustellen sind.
  4. Die Krankenhaus- und Gesundheitsinfrastruktur sowie die gesamte öffentliche Gesundheitsvorsorge sind sozial gerecht und auskömmlich auszugestalten. Das betrifft in der Pandemie nicht nur die Vorsorge gegen Ansteckung, die Ausstattung der Gesundheitsämter und das Angebot für die Kranken und Pflegepersonen, sondern auch faire Arbeitsbedingungen in den betreffenden Berufen.
  5. Die Strukturen der Gesundheitsvorsorge dürfen nicht gewinnorientiert sein, sondern müssen zwingend an den Bedürfnissen der Menschen orientiert werden – im nationalen wie internationalen Kontext. Die globale Pandemie muss global bekämpft werden: Wenn Patente die Rettung von Millionen Menschenleben verhindern, muss man sie unverzüglich aussetzen.
  6. Respekt für die Bevölkerung beginnt mit einem starken Sozialstaat, nicht mit einem starken Eingriffsstaat. Der Staat kann Eingriffe in die Freiheitsrechte von Menschen grundsätzlich nur als verhältnismäßigen und folglich auch erst als zweiten Schritt erwägen. Der erste, der wichtigste Schritt für den Staat muss aus linker Perspektive immer sein, die soziale Infrastruktur zu stärken, Angebote zu unterbreiten und aufzuklären. Dazu muss der Staat in der Lage sein, mit der Bevölkerung zu kommunizieren – über die Vereine, mit Sozialarbeit, in der Familien- und Jugendarbeit, in den Stadtteilzentren. Und dass das geht, zeigt unsere linke Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard in Bremen, die mit einer aufsuchenden Impfkampagne die höchste Impfquote unter den Bundesländern erreicht hat. Darin, dass wir sozialstaatlich und mit einer Politik des Vertrauens auch in Pandemiezeiten reagieren wollen, unterscheiden wir LINKE uns von allen anderen Parteien.
  7. Die Debatte um die Impfpflicht ist legitim, aber dass es sie überhaupt gibt, ist Ausdruck von völligem Politikversagen. Sie auf ein schlagzeilenträchtiges Ja oder Nein zur Impfpflicht zu verkürzen, ist unangemessen und das machen wir nicht mit. Ja, wir wollen, dass alle sich impfen lassen, vor allem Beschäftigte auf den Stationen und in den Heimen, oder auch Lehrkräfte. Sie warten seit zwei Jahren auf Maßnahmen der Bundesregierung, auf Entlastung, auf Anerkennung, auf Unterstützung oder wenigstens auf eine Perspektive. Aber es kommt nichts, außer jetzt die Verpflichtung zur Impfung – und danach werden sie weiter allein gelassen. Das geht so nicht. Die Bundesregierung muss den Kontakt zu ihnen suchen, überzeugende Impfangebote machen und vor allem sofort richtig Geld für Aufklärung und deutlich bessere Arbeitsbedingungen in die Hand nehmen. Die Impfpflicht darf nur letztes Mittel sein.
  8. Freiheit gibt es nicht umsonst. Ein Staat, der individuelle Freiheit und soziale Sicherheit auch in einer Krise sicherstellt, kostet Geld. Geld, das die Ampel-Regierung nicht bereit ist einzunehmen, weil sie den Reichen nicht auf die Füße treten will. Sie werden nichts an unsozialen Zuständen ändern, solange es nicht zugleich die Interessen der Wirtschaft bedient: Gut bezahltes Pflegepersonal ist teurer als die Einführung einer Impfpflicht, gut ausgestattete öffentliche Gesundheitsämter sind teurer als Kontaktbeschränkungen im privaten Umfeld. Luftfilter und gute Gebäude für Schulen sind teurer als die Schülerinnen und Schüler zum Lernen nach Hause zu schicken. DIE LINKE wird nicht aufhören, eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu fordern.
  9. Wir lehnen eine Politik ab, die die Verantwortung für gesellschaftliche Probleme in die Sphäre der Einzelnen verschiebt. Das zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährdet die Demokratie. Wir sind gegen eine Aufkündigung des Leitbilds der solidarischen Gesellschaft. Wir sind gegen eine Politik, die von den gesellschaftlichen Ursachen gar nicht mehr sprechen will und die auf Verbote und Verpflichtungen setzt, statt Menschen zu überzeugen und mitzunehmen. Dies kritisieren wir nicht nur bei Hartz IV, der Bildungspolitik, beim Klimaschutz oder der Strafrechtspolitik, sondern auch in der Corona-Politik.
  10. Je mehr Vorsorge der Staat betreibt und je besser ausgestattet die soziale Infrastruktur, desto besser geht es den Menschen nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch in schwierigeren Zeiten. Angesichts der Milliarden, die jedes Jahr – von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erarbeitet – auf den Konten von Aktionären landen, gibt es keinen Grund, der Bevölkerung ein gutes Leben vorzuenthalten.