Über weiße Flecken in NS-Aufarbeitung und Erinnerungskultur

Vortrag bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung

22.03.2017
Berliner Seminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Erinnerungskultur(en)

- Es gilt das gesprochene Wort -

Liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten,

ich freue mich sehr, dass ich die Gelegenheit habe im Rahmen ihres Seminars zum Thema „Erinnerungskultur(en)“ zu ihnen zu sprechen, denn ihr Seminarthema entspricht genau dem Thema, das ich – neben vielen anderen Themen – als Abgeordneter im Bundestag vertrete. Und wenn ein (relativ) junger Abgeordneter wie ich, heute im Jahr 2017, das Thema Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Bundestag behandelt, dann ist das ein erstes Zeichen dafür, dass es bei dieser Aufarbeitung massive Probleme und Widerstände gegeben hat. Wir befinden uns im 72. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach dem Ende von Faschismus und Nationalsozialismus. Die Erlebnisgeneration aus dieser Zeit ist zum größten Teil nicht mehr da, von den Opfern der NS-Vernichtungspolitik leben nur noch wenige und dennoch gibt es bis heute offene Fragen der Entschädigung für die Opfer, zahlreiche Menschen, die niemals für das ihnen angetane Leid entschädigt wurden. Und es gibt nach wie vor weiße Flecken in der Aufarbeitung und Erinnerungskultur an diese Zeit.

Bedeutung der NS-Geschichte für die BRD: Hindernisse und Blockaden

Berliner Seminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Erinnerungskultur(en)

Ohne Zweifel hat sich Deutschland mit der nationalsozialistischen Vergangenheit intensiv auseinandergesetzt. Intensiver als viele andere Länder wird oft (auch von deutschen Regierungen) gesagt. Das mag sein, hat seinen Grund aber darin, das die Dimension der Verbrechen alles andere überstieg. Wenn ich mir diese Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit ansehe, dann komme ich zu dem Schluss, dass die Erinnerung an Schrecken und Verbrechen in weiten Teilen der bundesdeutschen Geschichte gegen den Widerstand von Regierungen, Machtapparaten und Eliten durchgesetzt werden musste. Die Erinnerung an diese Zeit war immer umkämpft und sie ist es bis heute.

Lassen sie mich kurz einen Blick auf den Ausgangspunkt 1945 bzw. 1949 werfen. In der DDR, unter der Einparteienherrschaft der SED (unserer Vorvorgängerpartei), fand ein weitgehender Elitenaustausch statt, der die Träger des NS-Regimes aus nahezu allen Ämtern und Funktionen entfernte. Ohne rechtsstaatliche Mittel, teilweise auf zweifelhaften Urteilen beruhend, wurden die Funktionsträger des NS-Regimes ihrer Posten und Funktionen enthoben. Opportunismus, Herrschaftssicherung der SED und Propaganda spielten dabei sicherlich eine Rolle. Fakt aber ist, den antifaschistischen Anspruch setzte die DDR in Politik und Wirtschaft, also an den Schalthebeln der Macht, weitgehend um. Bei aller Kritik ist das aus meiner Sicht nicht klein zu schätzen, denn es bedeutete, Lehrer, Verwaltungsbeamte, Richter etc. von einem auf den anderen Tag zu ersetzen, was massive Probleme mit sich brachte. Die andere Seite dieses staatlichen Antifaschismus war jedoch, dass eine breite gesellschaftspolitische Aufarbeitung der massenhaften Zustimmung zum NS-Regime in der DDR nie stattfand. Die SED vermittelte der Bevölkerung den Eindruck, auf der Seite der Sieger der Geschichte zu stehen, weshalb die Frage der Verstrickung, der Mitwirkung, der breiten Täterschaft in der Bevölkerung niemals zum Thema wurde.

Ganz anders der Verlauf in der Bundesrepublik. Nachdem die Alliierten in den Nürnberger Prozessen die Spitze des NS-Staates abgeurteilt hatte und in den Nachfolgeprozessen auch Funktionsträger der zweiten Reihe in den Blick nahm, änderte sich das mit der Gründung der Bundesrepublik 1949. Vier Jahre nach dem Ende des Faschismus sollte der Blick endlich nach vorne gerichtet werden. Unter Verantwortung der ersten deutschen Regierung Adenauer gelangten viele Beamte und Funktionsträger des NS-Regimes wieder in Lohn und Brot. Wem keine direkte Beteiligung an Verbrechen nachgewiesen werden konnte, der galt als unbescholten und konnte auch im neuen Staat etwas werden. Die „Naziriecherei“ müsse ein Ende haben, so Adenauer, der auch ein Ende der „Entnazifizierung“ forderte.

Diese Sichtweise auf die Vergangenheit wurde auch in konkrete Politik umgesetzt. Mit dem so genannten 131er Gesetz von 1951 wurde den Funktionsträgern und Beamten des NS-Regimes der Weg in ihre alten Funktionen im neuen Staat ermöglicht. Beamte, Richter, Verwaltungsleute die für die Nazis gearbeitet hatten, kehrten jetzt auf ihre Posten zurück. Und sie brachten natürlich auch ihre politischen Einstellungen mit. Das gesellschaftspolitische Klima der 1950er Jahre war durch und durch konservativ und reaktionär. Was das für die in der Bundesrepublik lebenden überlebenden Opfer des Nationalsozialismus heißt, können Sie sich vielleicht ausmalen. Sie saßen im Extremfall als Kommunisten den Richtern erneut gegenüber, die sie schon vor 1945 in die KZs gesteckt hatten. Das Beispiel Hans Globke, der unter Adenauer das Kanzleramt leitete und während des Nationalsozialismus im Innenministerium an der antisemitischen Gesetzgebung mitwirkte, gilt als schlagendes Beispiel dieser Entwicklung. Wenn Sie sich für diese frühe Phase der Erinnerungspolitik in der Bundesrepublik interessieren, dann Empfehle ich Ihnen das Buch des Historikers Norbert Frei: „Vergangenheitspolitik“, in der er sich genau mit dieser Zeit befasst.

Aufarbeitung musste erkämpft werden: Vom Auschwitzprozess zum Historikerstreit

Aufarbeitung und Entschädigung für die Verbrechen mussten zumeist von außen erkämpft werden. Ab Mitte der 1950er Jahre gab es eine Entschädigungspolitik der Bundesrepublik für die Opfer der NS-Vergangenheit. Vor allem deshalb, weil Länder wie Israel aber auch die USA die Bundesrepublik unter Druck setzten, hier etwas zu tun. Viele Milliarden DM wurden für die Entschädigung über die Jahrzehnte ausgegeben aber unendliche viele Opfer, vor allem in Osteuropa gingen leer aus.

Berliner Seminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema Erinnerungskultur(en)

Die öffentliche Debatte zur NS-Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen und mit dem Holocaust setzten erst langsam ein. Der Auschwitzprozess ab 1965 war eine solche Wegmarke. Dass dieser Prozess überhaupt stattfand ist dem Staatsanwalt Fritz Bauer zu verdanken, der gegen massive Widerstände gegen Täter aus Auschwitz ermittelte und die Ergebnisse schließlich auch zur Anklage brachte. Der Auschwitzprozess konfrontierte die Gesellschaft der Bundesrepublik das erste Mal mit den Verbrechen des Holocaust und fand einen breiten öffentlichen Widerhall. Für die 68er Bewegung in Deutschland spielte das Thema eine große Rolle und wurde zu einer Auseinandersetzung zwischen den Generationen. Die Frage nach Beteiligung und Mitwirkung an den Verbrechen durch die normale Bevölkerung spielte jetzt erstmals eine größere Rolle.

Die 70er und 80er Jahre waren gekennzeichnet durch teilweise scharfe öffentliche Debatten zur NS-Vergangenheit. Der Historikerstreit aus den 1980er Jahren ist dabei sicher am bekanntesten. Der konservativen Seite ging es dabei immer darum, die Bedeutung der NS-Vergangenheit für die Politik der Bundesrepublik zu relativieren. Deutsche Politik dürfe sich nicht durch die Erinnerung an diese Zeit beeinträchtigen lassen. Ziel war es, die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust zurückzudrängen, weil sie als Hindernisse für einen positiven Bezug auf die Nation und als Hindernisse für eine Selbstständigere (Macht)Politik der Bundesrepublik gesehen wurden. Jedoch gab es breiten Widerstand gegen diese Form der Geschichtspolitik, womit die Debatten noch weiter zunahmen.

Aus heutiger Sicht erscheint die Erinnerung an den Holocaust und seine Opfer zentral und selbstverständlich zu sein. Das war jedoch nicht immer so. Als in der Bundesrepublik Ende der 1970er Jahre der US-Mehrteiler „Holocaust“ im Fernsehen ausgestrahlt wurde, war das ein Schock in der Bundesrepublik und löste breite Debatten aus. Erstmals nahm ein breites Publikum die Schrecken, Demütigungen und mörderische Realität des Holocaust am Schicksal einer „normalen“ jüdischen Familie wahr, die im Zentrum des Mehrteilers stand. Tatsächlich standen die Opfer der NS-Politik aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges, nach 1989/90 im Mittelpunkt der Debatten.

Debatten und Entschädigungspolitik

Mit der stärkeren Fixierung auf die Opfer der NS-Politik wurde auch die Frage der Entschädigung für die Millionen Opfer ein Thema, die niemals nach 1945 für ihr Leid entschädigt worden waren.

Die Wehrmachtsausstellung thematisierte ab 1995, dass die Verbrechen der Vernichtungspolitik nicht nur von der SS, sondern auch von der Wehrmacht begangen wurden und dass der Krieg im Osten als Vernichtungskrieg geführt wurde. Das Buch von Daniel Goldhagen stellte die Frage nach der Mittäterschaft und nach der Verbreitung des Antisemitismus in NS-Deutschland.

Politisch und für die Frage der Entschädigungspolitik zentral war die Zwangsarbeiterdebatte. Millionen Menschen wurden von den Nazis verschleppt und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Deutsche Firmen hatten über Jahre von dieser Zwangsarbeit profitiert, sich aber nach dem Ende des NS niemals über Entschädigungen Gedanken gemacht. Das änderte sich, als Opfer dieser Zwangsarbeit vor alle in den USA deutsche Firmen verklagten. Schließlich mussten Politik und Wirtschaft darauf reagieren und gründeten die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ (EVZ) die von beiden Seiten mit je 5 Milliarden DM (zusammen 10 Mrd.) ausgestattet wurde und bis heute ca. 1,6 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen entschädigt hat.

Vergessene Opfer und LINKEr Ansatz der Erinnerungspolitik

Die PDS (Vorgängerpartei der LINKEN) hatte seit ihrem Bestehen 1990 einen zentralen Schwerpunkt ihrer parlamentarischen Politik in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Entschädigung der Opfer der NS-Vernichtungspolitik. Hunderte von Anfragen, Anträgen und parlamentarischen Initiativen wurden von der PDS und der LINKEN in den Bundestag zu diesen Themen eingebracht. Die Zwangsarbeiterentschädigung und die Stiftung EVZ wurden von uns (meiner Kollegin Ulla Jelpke) immer wieder zum Thema im Bundestag gemacht.

Zwei Schwerpunkte sind dabei für unsere Politik in diesem Themenfeld zentral: Das Engagement für die bis heute vergessenen und nicht berücksichtigen Opfer der NS-Politik und die Aufarbeitung der personellen (und inhaltlichen) Kontinuitäten vom NS-Regime zur frühen Bundesrepublik.

Lassen Sie mich abschließend einige Beispiele nennen:

Ich hatte eben die Wehrmachtsausstellung erwähnt, die die Dimension des auch von der Wehrmacht geführten Vernichtungskrieges erstmals ins öffentliche Bewusstsein getragen hat. Nur wenige Soldaten haben sich dem Mittun bei diesen Verbrechen verweigert. Als Deserteure und „Kriegsverräter“ wurden diese Menschen über Jahrzehnte Stigmatisiert. Ihre Verweigerung wurde nicht etwa als Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime bewertet, sondern als Verrat. Zusammen mit der „Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz“ sind wir hier aktiv geworden und haben 2006 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem diese Menschen offiziell rehabilitiert werden sollten. 2007 schließlich wurde diese pauschale Rehabilitation im Bundestag beschlossen, nachdem die Angehörigen dieser Gruppe über Jahre für ihr Recht kämpfen mussten.

Ähnlich war es, bei der Frage der Entschädigung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die bei der Zwangsarbeiterentschädigung explizit ausgenommen wurden. Mit über 3 Millionen Opfern handelt es sich nach den Jüdinnen und Juden um die größte Opfergruppe der NS-Vernichtungspolitik, deren Überlebende jedoch nie entschädigt wurden. Vereine und Initiativen hatten sich schon seit Jahrzehnten für diese Gruppe eingesetzt und auch die LINKE hatte das Thema immer wieder in den Bundestag gebracht. Auch hier war es DIE LINKE die den Antrag auf Entschädigung in den Bundestag einbrachte und über Jahre Öffentlichkeit für dieses Thema schuf. Im Jahr 2015 wurde die Entschädigung der wenigen noch lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen beschlossen.

Eine Folgerung aus diesem Thema und aus vielen Gesprächen, die wir in diesem Zusammenhang geführt haben ist eine aktuelle Initiative, die wir sehr gerne noch vor der Bundestagswahl durchsetzen wollen. An keiner öffentlichen Stelle in Deutschland wird spezifisch an den Vernichtungskrieg in Osteuropa erinnert. Kein Mahnmal erinnert daran, dass die Nazis, gründend auf ihrer rassistischen Ideologie, viele Millionen Menschen in Osteuropa ermordet haben und noch Morde in unvorstellbarer Dimension planten (Generalplan Ost). Wir finden, dieser zentrale Punkt der Verbrechenspolitik des Nationalsozialismus muss öffentlich, mit einem Mahnmal erinnert werden. Wir sind dazu in Gesprächen mit anderen Fraktionen und würden gerne zu einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen im Bundestag kommen.

Der andere Strang unserer Erinnerungspolitik ist die Aufarbeitung der personellen (und inhaltlichen) Kontinuitäten vom NS-Regime zur frühen Bundesrepublik. Wir haben in den letzten Jahren zahlreiche Anfragen und Anträge zur Aufarbeitung in Ministerien und Behörden des Bundes eingebracht, wo es um die Frage solcher Kontinuitäten geht. Dass NS-Täter, die an Verbrechen beteiligt waren, in den 1950er Jahren und danach für bundesdeutsche Geheimdienste tätig werden konnten, ist ein ungeheurer Skandal. Wir würden gerne die Entscheidungswege dafür nachvollziehen können, weshalb die Aufarbeitung z.B. der Geschichte des Bundeskanzleramtes aus unserer Sicht besonders wichtig ist. Hier wurde die sensiblen Entscheidungen getroffen, wie mit NS-Belasteten Personen in wichtigen Stellungen umgegangen wurde. Auch hierzu haben wir einen Antrag eingebracht und eine Anhörung im Bundestag durchgeführt.

Die Rolle des Antikommunismus sowohl bei der Verhinderung einer kritischen Geschichtsaufarbeitung als auch bei der Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie wird ebenfalls viel zu oft ausgeblendet. In zahlreichen Veröffentlichungen, Vorträgen und parlamentarischen Initiativen habe ich deshalb versucht eine breitere Auseinandersetzung mit den Folgen des „Antikommunismus in der frühen Bundesrepublik" zu initiieren. In diesem Zusammenhang stehen natürlich auch unsere vielfältigen Initiativen rund um das KPD-Verbot.

In diesem Kontext möchte ich an zwei eng mit dem Antikommunismus verknüpfte Aspekte erinnern: Revanchismus und Geschichtsrevisionismus. Mit dem Gedenktag zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung und dem parallel entstehenden Museum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Erinnerung findet unter Schwarz-Rot genau der geschichtspolitische Paradigmenwechsel statt, vor dem viele Historiker und NS-Opferverbände warnen. In den letzten Jahren und Jahrzehnten gelang es allerdings den Einfluss der Rechtsaußen in der Union Stück für Stück zurückzudrängen. Doch mit dem Entstehen von PEGIDA und dem Erstarken der AfD werden revanchistische und geschichtsrevisionistische Stimmen wieder lauter.

Auch 72 Jahre nach dem Ende von Krieg und Faschismus gibt es offene Fragen und gibt es Menschen, die niemals für das ihnen angetane Leid entschädigt wurden. Das werden wir auch im Bundestag immer wieder thematisieren. Für die Bundestagsfraktion DIE LINKE ist es Selbstverständnis und Verpflichtung, die Erinnerung an Holocaust und deutsche Kriegsverbrechen wachzuhalten.