Jan Korte, MdB (DIE LINKE) (www.jan-korte.de)

"Für die Demokratie wären vier weitere Jahre Große Koalition eine Katastrophe"

02.11.2015

Fraktionsvize Jan Korte findet es in der Flüchtlingsfrage unglaublich, “dass sich einer der reichsten Staaten der Welt selbst so runtergewirtschaftet und -gekürzt hat, dass er vor einer solchen Aufgabe kapituliert”. Er fordert “eine sehr viel stärkere politische Auseinandersetzung mit Pegida, AfD und all den anderen Rassisten, denn die eigentliche Gefahr ist, dass deren menschenverachtende Ansichten in der Mitte der Gesellschaft hoffähig gemacht werden”. Setzten sich Seehofer, Orbán und Kollegen durch, sei der “Fortbestand der EU tatsächlich in großer Gefahr”, warnt Korte.

In der Flüchtlingsfrage hat Bayerns Ministerpräsident Seehofer gerade Kanzlerin Merkel öffentlich ein Ultimatum gestellt, und kurz darauf hat Vizekanzler Gabriel uns alle wissen lassen, dass er natürlich Kanzler werden wolle. Man könnte meinen, die Große Koalition steht kurz vor dem Aus.

Jan Korte: Einige Medien haben auch vermeldet, Seehofer erwäge die Abberufung „seiner“ CSU-Minister aus Berlin. Das wäre seine mit Abstand beste Idee in diesem Jahr. Eigentlich hätten CDU und SPD die CSU spätestens nach der Hofierung des rechtsradikalen ungarischen Ministerpräsidenten Orbán und ihrer ständigen Hetze gegen Flüchtlinge von der Zusammenarbeit ausschließen müssen. Und von Gabriel droht am wenigsten Gefahr: Der einzige Streit, den CDU und SPD wirklich führen, ist der um das schwammigste Profil im Kampf um die Mitte. Da kann Gabriel erklären, dass er Kanzler, Lokomotivführer oder was auch immer werden will: Solange die SPD nicht bereit ist für einen Politikwechsel, stellt sie Vizekanzlerkandidaten. Das ist übrigens bedauerlich.

DIE LINKE fordert, den Investitionsstau der zurückliegenden Jahre endlich aufzulösen, und schlägt eine soziale Investitionsoffensive vor. Hat unsere Gesellschaft nicht viel grundlegendere Probleme?

Seit Jahren wurde hemmungslos durchprivatisiert. Die Kommunen sind finanziell nahezu handlungsunfähig. Der Wohnungsmarkt existiert praktisch nicht mehr – in elf Jahren wurden eine Million Sozialwohnungen abgebaut. Und der Lehrerinnen- und Erziehermangel wird immer schlimmer. Das sind grundlegende Probleme, die seit Jahren ignoriert wurden und die jetzt im Zusammenhang mit unserer Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, offenbar werden. Es ist doch unglaublich, dass sich einer der reichsten Staaten der Welt selbst so runtergewirtschaftet und -gekürzt hat, dass er vor einer solchen Aufgabe kapituliert. Das muss doch auch dem konservativsten Unionspolitiker zu denken geben. Wir fordern das, was versäumt wurde, jetzt zügig mit einem Investitionsprogramm nachzuholen. Das wird auch von vielen anderen Seiten gefordert und ist von einer sozialistischen Utopie noch weit entfernt.

AfD und Pegida bedienen sich der Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung. Rechtspopulisten erstarken, Rechtsextremisten verüben immer ungenierter Gewalttaten. Wie muss der Rechtsstaat darauf reagieren?

Pegida und die AfD tragen bewusst und gezielt zur weiteren Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas bei und haben eine Mitverantwortung für die in diesem Klima ausgelösten rassistischen Taten. Die jetzt in Teilen der Politik geäußerten Vorschläge, wie Demonstrations- oder gar Organisationsverbote und die Überwachung durch den Verfassungsschutz führen jedoch in eine falsche Richtung. Dieser Aktionismus wird nichts an der gesellschaftspolitischen Verankerung dieser Gruppen ändern und liefert eher Einfallstore für den Abbau demokratischer Rechte. Die vorhandenen gesetzlichen Grundlagen bieten ausreichend Möglichkeiten, gegen Hetze vorzugehen. Wir brauchen auch endlich eine sehr viel stärkere politische Auseinandersetzung mit Pegida, AfD und all den anderen Rassisten, denn die eigentliche Gefahr ist, dass deren menschenverachtende Ansichten in der Mitte der Gesellschaft hoffähig gemacht werden. Leider tragen Vertreterinnen und Vertreter von Union und SPD dazu bei, wenn sie die Parolen, oft nur leicht verändert, übernehmen. Vom rechten Spruch „das Boot ist voll“ gibt es mittlerweile mehrere Unions- und SPD-Versionen, seit kurzem sogar eine grüne.

Und welche Antworten muss unsere Gesellschaft geben?

Die richtige Antwort auf die Herausforderung durch AfD und Pegida geben tausende Menschen täglich als Freiwillige in Flüchtlingsinitiativen oder auf den Demonstrationen: Sie leben und zeigen Solidarität und bieten Rassisten die Stirn. Neben der politischen Auseinandersetzung brauchen wir Aufklärung - und zwar bitte nicht durch den Verfassungsschutz, sondern durch die, die sich wirklich auskennen, zum Beispiel durch antifaschistische Initiativen, Opferberatungen, Träger von Präventionsprogrammen und Stiftungen. Hier wird eine tatsächliche, fachliche, regionale Aufklärung zu den rechten Strukturen gemacht. Und diese Expertise gilt es zu fördern und finanziell besser aufzustellen. Angesichts von mehr als 500 Anschlägen allein in diesem Jahr ist auch die von uns geforderte unabhängige Bundesstiftung gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nötiger denn je. Warum richtet die Bundesregierung nicht eine Adhoc-Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlerinnen und Praktikern ein, die schnelle konkrete Analysen vornehmen, konkrete Vorschläge für eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung unterbreiten und Handlungsansätze aufzeigen?

Streit in der Flüchtlingsfrage gibt es nicht nur innerhalb der Bundesregierung, sondern unter den Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Wie sicher ist deren Fortbestand?

Es ist tragisch, wie sich die EU angesichts einer vergleichsweise geringen Herausforderung zerlegt. Klar, es sind tausende Flüchtlinge, die derzeit auf der Balkanroute unterwegs sind oder auch schon hier sind und Schutz vor Krieg, Terror und Gewalt gefunden haben. Aber das ist eine kleine Zahl verglichen mit den 500 Millionen Einwohnern der EU. Seehofer, Orbán und Kollegen wollen dieser halben Milliarde weismachen, dass sie wieder mit Grenzzäunen leben sollen. Dass sie europäische Werte, Menschenrechte, Freiheit und Solidarität aufgeben sollen, um Menschen abzuwehren, die bei uns Schutz suchen. Das darf nicht sein und ich hoffe, dass sie damit nicht durchkommen. Sonst ist der Fortbestand der EU tatsächlich in großer Gefahr.

In Portugal hat gerade der konservative Staatspräsident seinen bei der Parlamentswahl unterlegenen Parteifreund mit der Regierungsbildung beauftragt, obwohl nicht er, sondern ein Mitte-Links-Bündnis eine Mehrheit hat. Spätestens hier muss sich keiner über fortschreitende Demokratieverdrossenheit in der Bevölkerung wundern.

Das stimmt. Die Entscheidung von Staatspräsident Cavaco Silva ist krass und wird Portugal in ziemliche Turbulenzen stürzen. Er missachtet damit nicht nur den Wählerwillen, der ein Ende der verhängnisvollen Sparpolitik gefordert hat, sondern bezeichnender Weise auch seine eigenen Vorgaben. Kurz vor den Sondierungsgesprächen vor drei Wochen hatte er noch eine „stabile Regierung“ gefordert. Offensichtlich können Konservative aber schlecht verlieren. Ihnen ist der Machterhalt wichtiger als die Demokratie oder die Verfassung. Ich hoffe aber, dass die Portugiesinnen und Portugiesen sich dadurch nicht enttäuscht von der Politik abwenden, sondern stattdessen die Mitte-Links-Parteien bei den vermutlich kommenden Neuwahlen umso stärker unterstützen.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Vertrüge unser Land eine weitere Wahlperiode unter einer Großen Koalition mit einer 80-Prozent-Mehrheit im Bundestag?

Keine Ahnung. Vermutlich ist die Schmerzgrenze bei vielen Leuten noch nicht erreicht. Man gewöhnt sich ja an vieles und auch Kohl haben ja zumindest die Westdeutschen 16 Jahre ertragen. Für die Demokratie allerdings wären vier weitere Jahre Große Koalition eine Katastrophe. Aber: Wir werden weiter gute Oppositionsarbeit machen und für andere Mehrheiten kämpfen. Denn je stärker DIE LINKE ist, desto sozialer und demokratischer ist das Land.

Erschienen auf linksfraktion.de am 2.11.2015

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