Jan Korte, MdB (DIE LINKE) (www.jan-korte.de)

Sowjetische Kriegsgefangene als NS-Opfer anerkennen

02.06.2016
Jan Korte, DIE LINKE: Sowjetische Kriegsgefangene als NS-Opfer anerkennen

Rede in der 173. Sitzung des Deutschen Bundestages TOP 11: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Herbert Behrens, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Anerkennung der sowjetischen Kriegsgefangenen als NS-Opfer Drucksache 18/8422

Jan Korte (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast genau vor 75 Jahren begann der Angriffs- und Vernichtungskrieg Nazideutschlands gegen die damalige Sowjetunion. Die Folge waren 27 Millionen tote Sowjetbürger. Heute, einige Tage vor diesem bewegenden Jahrestag, gilt unser Dank selbstverständlich denjenigen Menschen in der Sowjetunion, die mit oder ohne Uniform durchgehalten haben und den wesentlichen Anteil an der Befreiung Europas vom Joch des Hakenkreuzes geleistet haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Der Krieg gegen die Sowjetunion war halt nicht irgendein Krieg, sondern es war ein Krieg, der alle bis dahin von der Menschheit entwickelten Rechts- und Zivilisationsregeln außer Kraft setzte. Jan Philipp Reemtsma sagte damals, zur Eröffnung der ersten Wehrmachtsausstellung 1995 in München - ich darf ihn zitieren -:

Der Krieg der deutschen Wehrmacht im - pauschal gesprochen - „Osten“ ist kein Krieg einer Armee gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein Teil - die Juden - ausgerottet, der andere dezimiert und versklavt werden sollte. Kriegsverbrechen waren in diesem Kriege nicht Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht dieses Krieges selbst. Der Terminus „Kriegsverbrechen“ ist aus einer Ordnung entliehen, die von Deutschland außer Kraft gesetzt worden war, als dieser Krieg begann.

Heute geht es nun darum, endlich einer der größten Opfergruppen Nazideutschlands würdig zu gedenken. 5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee sind damals in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Von diesen 5,7 Millionen starben 3,3 Millionen an Hunger, Kälte, Krankheiten und massenhaften Hinrichtungen. Das ist übersetzt eine Sterblichkeitsquote von 60 Prozent. Im Vergleich - um ein wenig einzuordnen, worum es hier geht -: Die Sterblichkeitsquote bei anderen alliierten Kriegsgefangenen lag bei 3,5 Prozent. Ich denke, das macht die Systematik des Mordens unter der Regie der deutschen Wehrmacht deutlich. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat Bundespräsident Gauck natürlich recht mit seiner Aufforderung an die Politik, endlich diese Opfergruppe aus dem Erinnerungsschatten herauszuholen, wie er es treffend formuliert hat.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man muss logischerweise darüber nachdenken, warum diese Opfergruppe so lange keinen adäquaten Wert in unserer Erinnerungskultur hatte. Ich will einige Stichworte nennen.

Das hatte natürlich etwas mit dem schier wahnwitzigen Antikommunismus der 50er- und 60er-Jahre zu tun, in dessen Gesamtklima der Krieg gegen die Sowjetunion als fast legitim galt.

Es hatte etwas mit der verheerenden Lüge von der sauberen Wehrmacht zu tun, die noch bis Mitte der 90er-Jahre die Debatte dominierte.

Zum Dritten hatte es natürlich etwas mit der „Unfähigkeit zu trauern“ zu tun, wie es Alexander und Margarete Mitscherlich richtigerweise gesagt haben: Die Gesellschaft war geprägt vom Verschweigen, Verdrängen und davon, sich zu dem eigentlichen Opfer zu machen und keinerlei Empathie mit den wirklichen Opfern zu haben.

Natürlich hatte es etwas - das wollen wir bei so einem Thema auch nicht verschweigen - mit der Rückkehr der alten Eliten in Bundeswehr, Justiz, Wirtschaft und letztendlich Politik zu tun.

Ein weiterer Grund, warum diese Opfergruppe so vergessen worden ist, hatte etwas mit der Politik der Stalin’schen Sowjetunion zu tun; denn auch dort gab es kein adäquates Gedenken an die Kriegsgefangenen. Sie galten bis in die 90er-Jahre als Verräter. Auch das ist ein Punkt, der erwähnt werden muss, wenn wir über dieses Thema sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mein Dank gilt heute natürlich auch den vielen Wissenschaftlern, kritischen Journalisten und vor allem den vielen lokalen Geschichts- und Gedenkinitiativen, die immer wieder auf dieses Schicksal aufmerksam gemacht haben. Deswegen war es eine gute, überfällige Entscheidung, dass der Haushaltsausschuss im Mai 2015 endlich, zumindest symbolisch, 10 Millionen Euro zur Entschädigung der noch wenigen überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen bereitgestellt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich freue mich ausdrücklich - wir haben das überprüft und entsprechende Auskunft erhalten -, dass bereits damit begonnen wurde, pauschal 2 500 Euro an diese Menschen - die sind Mitte 90 - auszuzahlen. Das ist richtig und gut so, aber es ist zu spät.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Heute geht es aber um eine mindestens genauso wichtige Frage, nämlich die, ob der Deutsche Bundestag neben der finanziellen Anerkennung des Leids dieser Opfer in der Lage und willens ist, anlässlich des 75. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion endlich ein politisches Zeichen zu senden. Deswegen formulieren wir in unserem Antrag:

Der Deutsche Bundestag bittet die Überlebenden um Verzeihung für das, was ihnen durch das NS-Regime angetan wurde, und dafür, dass Deutschland so lange brauchte, dieses Unrecht beim Namen zu nennen.

Darum geht es heute. Ich würde mich freuen, wenn wir dies konsensual und interfraktionell hier so beschließen könnten, um dieses wichtige Zeichen auszusenden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Neben dieser politischen Geste sollte es natürlich auch darum gehen, dass wir uns aus der Mitte des Bundestages daranmachen, endlich ein adäquates Mahnmal oder einen Gedenkort, wie man heute sagt, in der Mitte Berlins für diese riesige Opfergruppe zu schaffen. Ich danke insbesondere der Initiative „Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik“, die ja bereits mit allen Fraktionen Gespräche geführt hat. Mir wurde heute berichtet, dass alle Fraktionen offen für die Schaffung solch eines Gedenkortes gewesen sind.

Langer Rede kurzer Sinn: Wann, wenn nicht im 75. Jahr des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjetunion, wäre es an der Zeit, diese Leerstelle zu füllen? Ich lade Sie herzlich ein, dass wir gemeinsam, gegebenenfalls auch interfraktionell - unsere Fraktion ist dazu bereit -, einen Antrag einbringen, der die politische Geste der Entschuldigung beinhaltet und mit dem wir ein Mahnmal bzw. einen Erinnerungsort hier in Berlin auf den Weg bringen. Es ist an der Zeit. Es leben nur noch ganz wenige. Deswegen müssen wir uns beeilen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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